Chronik

Der Petit Médoc in Oberdollendorf ist der kleine Bruder des Médoc-Marathons und der ultimative Genusslauf bei 30 Grad

Selbst Queen Elizabeth II. gab sich hier die Ehre. Wenige Tage vor ihrem letzten Deutschland-Besuch im Jahr 2015 wurde die englische Königin in den Oberdollendorfer Weinbergen gesichtet. Offensichtlich wollte sich die Queen beim Le Petit Médoc einmal fühlen wie Gott in Frankreich und nahm kurzerhand an der Veranstaltung der SSG Königswinter teil, gemessenen Schrittes und eskortiert von einer ganzen Schwadron uniformierter Leibgardisten mit Bärenfellmützen. Dabei befand sich Ihre Majestät durchaus in illustrer Gesellschaft. Schneewittchen, der gestiefelte Kater und die drei Musketiere begleiteten sie auf dem Rundkurs durch den Weinort und die Weinberge. Als Teilnehmergruppe mit der besten Kostümierung wurde die Königin zusammen mit ihrer Leibgarde ausgezeichnet.

Auch wenn es nicht die echte Queen war. Die Königin hieß in diesem Fall Christian, kam aus Arnsberg im Sauerland und feierte Junggesellenabschied. Bei der Siegerehrung stimmten ihre Begleiter die britische Nationalhymne „God save the Queen“ an, ganz wie es einer Königin gebührt. Für Schnee-Peterchen und die zweimal sieben Zwerge aus Bonn und die Familie Grimm, die als Blaubart, Goldmarie, Rotkäppchen, Gestiefelter Kater und Böser Wolf verkleidet war, blieben nur der zweite und dritte Platz im Kostümwettbewerb.  

Die alte Weisheit, dass manchmal aus einer Not eine Tugend wird, trifft für den Petit Médoc ganz unbedingt zu. Im Winter des Jahres 2012 befand sich die SSG Königswinter tatsächlich in einer echten Notlage. Vier Jahre lang, zwischen 2007 und 2010, hatte der Leichtathletik-Verein mit großem Erfolg den Königswinterer Sommernachtslauf veranstaltet. Mit den Einnahmen wurden unter anderem das Training und die Starts der erfolgreichen Nachwuchsleichtathleten finanziert. Doch dann gab es im Vorstand auf einmal unterschiedliche Vorstellungen über die Verteilung des Geldes mit dem Ergebnis, dass der Organisator des Sommernachtslaufes sein Engagement einstellte. Nachdem die Veranstaltung bereits 2011 ausgefallen war, schrumpfte das Vereinsvermögen in kürzester Zeit und die weitere finanzielle Unterstützung für den Nachwuchs war auf einmal nicht mehr gesichert.

Bei der richtungweisenden Vorstandssitzung im März 2012 wurde kurzfristig über einen Crosslauf in Oberpleis als Ersatz für den Sommernachtslauf nachgedacht. Das Problem: Ein Geländelauf hätte keine hohe Teilnehmerzahl erreicht und nicht genug Geld in die Vereinskasse gespült. In dieser Situation meldete sich ein Vorstandsmitglied zu Wort: Winni Penno, Läufer und Triathlet aus Oberdollendorf, ging schon länger mit der Idee schwanger, in den heimischen Weinbergen zusammen mit den Winzern aus der Region einen Lauf zu veranstalten. Als er den Vorschlag machte, sprang sein Vorstandskollege Hermann Ulrich, selbst ein erfolgreicher Läufer, spontan auf, weil er von der Idee begeistert war. Am nächsten Tag telefonierten die beiden Laufkollegen miteinander und waren sich sehr schnell auch über die Strecke einig. Sie sollte durch das Mühlental, über den Rheinsteig, durch die Weinberge und den pittoresken Ortskern von Oberdollendorf führen. Der Termin sollte noch vor den Sommerferien sei.

Das bedeutete, dass nur noch drei Monate Zeit für die Organisation blieb. Winni Penno und Vereinskollege Thomas Mauel, ebenfalls aus dem Weinort, suchten die Winzer und Gastronomiebetriebe in Oberdollendorf und Königswinter auf, um sie für den Lauf zu gewinnen. Auf Anhieb waren das Weingut Sülz mit Winzer Andreas Lelke, die Winzer Blöser aus Oberdollendorf und Broel aus Rhöndorf, die Weinmühle und viele andere mit dabei. Später kamen auch noch das Weingut Pieper aus Königswinter und der Winzer Kay Thiel aus Oberdollendorf hinzu. Winni Penno holte weiterhin Firmen wie Radsport Hübel aus Oberkassel oder Skinfit sowie örtliche Einzelhändler wie die Bäckerei Bürder, den Friseur Salm oder den Optiker Lindner mit ins Boot. Zu den Unterstützern gehörten auch seine eigene IT-Firma und das Unternehmen von Stadtplaner Hermann Ulrich. Als Hauptsponsoren konnten die Kreissparkasse und die Rhenag, die bereits den Sommernachtslauf unterstützt hatten, gehalten werden. 

In kürzester Zeit wurde ein Organisationsteam ins Leben gerufen. Bei der ersten Versammlung waren schon 15 Vereinsmitglieder dabei. Hermann Ulrich hatte die Idee, den Lauf nach dem Médoc-Marathon in Frankreich zu benennen. So wurde „Le Petit Médoc“ zum kleinen Bruder des berühmten Franzosen. Auch die Idee, dass die Läufer sich verkleiden können, wurde von dort übernommen. Die Faszination des Médoc-Marathons in Frankreich versuchte Winni Penno im ersten Jahr in einem Interview zu erklären. „Die Leute strahlen, wenn sie davon erzählen. Daher wollten wir auch gar nicht vertuschen, dass wir die Idee kopieren. So wissen die Leute immerhin sofort, was sie erwartet – ich höre oft, dass das genau die Art von Lauf sei, die der Region bislang gefehlt habe.“

Um die besondere Atmosphäre nicht nur an der Strecke, sondern auch im Start- und Zielbereich und bei der anschließenden Siegerehrung im Weingut Sülz zu schaffen, gründeten die Organisatoren eine Ambiente-Gruppe, die sich um die Gestaltung des Hofes kümmerte. Die Veranstaltung ist bis heute vor allem eine Teamarbeit. Alle Fäden laufen seit einigen Jahren bei Melanie Gau zusammen, die seit 2018 auch Vorsitzende der SSG Königswinter ist. Sie pflegt den Kontakt zu den Sponsoren und teilt die Helfer ein. Ganz wichtig ist die Ambiente-Gruppe mit Heike Kappel und Uli Rick, die die Abläufe im Hof des Weingutes organisieren. Claudia Kaptain ist seit Jahren für den Bereich Anmeldungen verantwortlich, Thomas Mauel für die Technik, Thomas Schneider und Arne Pöppel für die Zeitmessung bei den Kinderläufen. Dazu kommen viele andere Helfer, die zum Teil vom ersten Jahr an dabei sind.    

Der Petit Médoc sorgte von Anfang an bei der SSG Königswinter für eine echte Aufbruchstimmung und zahlreiche kreative Ideen. Dazu gehörte auch die Auswahl der Musik. Ein Beispiel sind Marion & Sobo, die mittlerweile Konzerthallen füllen und Läufer und Publikum bereits bei der Premiere im Jahr 2012 mit ihrer musikalischen Mischung aus vokalem Gypsy Jazz, globaler Musik und Chansons begeisterten. Echte Klassiker sind inzwischen auch die Weinflasche für jeden kostümierten Teilnehmer und das Petit Médoc-Glas mit eingravierter Jahreszahl.   

Den Vorschlag von Winni Penno, die Zahl der Starter bereits im ersten Jahr zu begrenzen, nahm kaum keiner so richtig ernst, da niemand glaubte, dass mehr als 100 bis 200 Läufer kommen würden. Doch Penno sollte Recht behalten. Nach wenigen Wochen waren 400 Startplätze vergriffen. Schließlich gab es nur noch Tickets für die Läufe der Schüler und Bambini. Die Teilnahme kostete bei der Premiere nur neun Euro für die Erwachsenen und einen Spendenbetrag für die Schüler.

Im ersten Jahr gingen tatsächlich rund 700 Teilnehmer an den Start. Ein Jahr später wurden die Organisatoren dann von der Flut der Anmeldungen überwältigt. Bereits am ersten Abend meldeten sich über 320 Teilnehmer an, nach wenigen Tagen war die Veranstaltung mit 800 Läufern im Haupt- und Jedermannlauf ausgebucht. „Unser Ziel ist eine entspannte Atmosphäre, wir wollen alles so locker und ungezwungen wie möglich halten“, sagte Winni Penno damals auf die Frage, warum das Teilnehmerlimit angesichts der großen Nachfrage nicht angehoben wurde.

An insgesamt sechs Verpflegungsstationen, inzwischen sind es sieben, konnten sich die Läufer bei traumhaftem Rheinblick mit einem Glas Rot- oder Weißwein für ihre Anstrengungen belohnen. Auch Häppchen in Form von Baguette, Käse und anderen französischen Köstlichkeiten werden gereicht. So bietet zum Beispiel die Familie Düchs aus Oberdollendorf, die von Anfang an dabei ist, leckeres Honigbrot der Siebengebirgsimker an einer der Stationen an. 

Gleich beim ersten Mal waren schon sehr viele kostümierte Motto-Gruppen unterwegs. Ein Teil der Läufer und Läuferinnen startete aber auch mit sportlichem Ehrgeiz. Doch recht schnell war klar, dass es beim Petit Médoc nicht um Bestzeiten, sondern vor allem um die Erlebnisse am Streckenrand geht. Der sportliche Ehrgeiz beschränkt sich inzwischen auf die Läufe für die Kinder, die beim ersten Mal noch durch den Garten von Gut Sülz rannten und heute auf einer Wendepunktstrecke im Mühlental unterwegs sind. Bambini, Schülerinnen und Schüler geben Alles, um auf dem Treppchen zu landen. Für die Kleinen wurde zusätzlich ein Kinderprogramm mit Zauberer, Jongleur, Ponyreiten und Naturrätsel geboten.

Als Anmeldetermin für den Petit Médoc hat sich der Abend nach dem Bonn-Marathon im April eingebürgert. Dauerte es im ersten Jahr noch vier bis fünf Tage bis der Lauf ausgebucht war, liegt der Rekord seit dem Jahr 2024 bei sechs Minuten, in denen die 800 Startplätze komplett vergeben waren. Viele Teilnehmer bereiten sich auf ihre Kostümierung bei der Veranstaltung inzwischen genauso gewissenhaft wie auf die Karnevalstage vor. Bereits im Herbst oder Winter werden in Freundeskreisen erste Ideen geschmiedet, als wer oder was man beim nächsten Petit Médoc an den Start gehen könnte. Anschließend werden die Kostüme oder das Equipment genäht, gebastelt oder gezimmert.      

Einer der treuesten und kreativsten Teilnehmer ist dabei ein ehemaliger Fechtweltmeister. Jürgen „Jojo“ Nolte wohnt direkt an der Strecke. In den ersten Jahren nahm der Lehrer mit den Schülern seiner Sportklasse des Bonner Tannenbusch-Gymnasiums und deren Eltern teil. Jahr für Jahr übertrifft sich die Gruppe mit ihren Ideen und Kostümen selbst und wurde dafür auch immer wieder ausgezeichnet. Einmal ging sie als Französische Revolution mit einer selbst gebauten Guillotine an den Start. Ein anderes Mal bot sie französische Haute Cuisine an der Strecke an. An jeder der sieben Verpflegungsstationen deckten sie einen Tisch mit einer weißen Tischdecke ein. Anschließend servierte sie einem Pärchen in feiner Abendgarderobe ein Festmahl. Passend zum damaligen Motto der Veranstaltung „Freiheit läuft“ tauchte dabei eine Friedenstaube aus Plüsch unter der Speiseglocke auf. Der Jury fiel die Entscheidung im Kostümwettbewerb nicht schwer: Das französische Feinschmecker-Restaurant Le Petit Médoc erhielt drei Sterne. Der Spaßfaktor und das Lokalkolorit sorgen dafür, dass die Gruppe jedes Jahr wieder bei der Veranstaltung mit von der Partie ist. „Die super Stimmung in unserem schönen Oberdollendorf und die Übertragung der französischen Mentalität ins Rheinland“, sagt Jürgen Nolte.   

Auch die Medien begleiten den Petit Médoc von Anfang an. Ein Reporter der WDR-Lokalzeit ging mit Kamera und Mikrofon beim vielleicht verrücktesten Lauf im Rheinland auf Spurensuche und ließ sich von dem Médoc-Virus derart anstecken, dass er ankündigte, in Zukunft selbst mit seinen Freunden an den Start gehen zu wollen. Auch Matthias Beckonert, Mitarbeiter des General-Anzeigers und regelmäßiger Teilnehmer, brachte bei seiner Reportage die Faszination auf den Punkt. „Laufen bei Temperaturen jenseits der 30 Grad, dazu Wein? Was objektiv nach einer denkbar schlechten Kombination klingt, ist mit dem Petit Médoc in Oberdollendorf mittlerweile zur festen Institution im Laufkalender geworden. Kein Wunder, dass der Lauf in jedem Jahr sehnsüchtig erwartet wird.“    

Sehnsüchtig wurde die Veranstaltung auch erwartet, nachdem sie in der Corona-Zeit zweimal ausfallen musste. 2022 wurden nicht nur mit Temperaturen von über 35 Grad Hitzerekorde gebrochen. Die Kosten waren in der Zwischenzeit auch so stark gestiegen, dass kaum noch ein Plus für den Verein übrig blieb. Damals begab sich die SSG Königswinter auf die Suche nach einem zweiten Hauptsponsor neben der Kreissparkasse Köln. Die Firma C. Gerhardt aus Oberdollendorf, die zu den führenden Anbietern von Laborgeräten und Verfahren zur Analyse von Futter- und Lebensmitteln gehört, unterstützt seitdem die Veranstaltung für eine Dauer von fünf Jahren. Wie auch die Kreissparkasse ist der neue Hauptsponsor mit einem eigenen Team am Start. Die Mitarbeiter der Kreissparkasse gehören außerdem seit vielen Jahren zu den rund 80 Helfern, ohne die der Lauf nicht möglich wäre.

Das Thema Nachhaltigkeit spielt beim Petit Médoc eine große Rolle. Plastikbecher für Wein, Traubensaft und Wasser gibt es seit Jahren nicht mehr. Stattdessen erhält jeder Teilnehmer einen Tonbecher, den er jedes Jahr wiederverwenden kann. Der Müll hält sich seitdem in Grenzen. Den Adelsschlag erhielten die Veranstalter im Jahr 2016. Damals feierte Dollendorf den 1050. Geburtstag. Die Ortsvereine fragten bei der SSG nach, ob sie ihr Jubiläumsfest am Wochenende des Petit Médoc ausrichten dürften. Denn dann würden viele gut gelaunte Menschen nach Oberdollendorf kommen. Es kam zu einer Kooperation, durch die der Petit Médoc endgültig im Ort heimisch wurde.

Auch die jährliche Spendenaktion galt und gilt immer wieder Projekten in dem Weinort. Dazu zählten zum Beispiel die Hannah-Stiftung oder die viel beachtete Stolperstein-Aktion für ehemalige jüdische Mitbürger, die Opfer der Nationalsozialisten geworden waren. Von den Spenden beim Petit Médoc wurden im November 2024 fünf Stolpersteine verlegt. Ernste und heitere Themen liegen beim Petit Médoc stets eng beieinander. Und niemand fängt das Besondere der Veranstaltung immer wieder so gut ein wie der preisgekrönte Karikaturist und Bildhauer Burkhard Mohr. Die Karikaturen des Oberdollendorfers finden sich unter anderem auf den Etiketten der Weinflaschen wieder, die die Läufer mit nach Hause nehmen dürfen. Viele bleibende Erinnerungen an den Petit Médoc dürften auf diese Weise schon ihren Platz im Weinkeller der Teilnehmer gefunden haben. 

Text: Hansjürgen Melzer

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